„Not a servant, but not a parent either“ – europäische Gouvernanten in den Metropolen des spät-osmanischen Reichs
Betreuerin: Jun.-Prof. Dr. Barbara Henning
Das Projekt nimmt Hauslehrerinnen, Erzieherinnen und Gouvernanten in den Blick, die im ausgehenden 19. Jh. aus unterschiedlichen europäischen Kontexten nach Istanbul und in weitere
osmanische Metropolen wie Kairo, Damaskus oder Beirut gelangten, um dort die Kinder von Angehörigen der osmanischen Elite zu erziehen und insbesondere Sprach- oder Musikunterricht zu erteilen. Einige dieser Akteurinnen lebten für längere Zeiträume in den Haushalten osmanischer Notabeln, Staatsbeamter oder Militärs und erhielten so vertiefte Einblicke in das Alltags- und Familienleben ihrer Arbeitgeber:innen. Dabei kam ihnen in Bezug auf ihren sozialen Status eine Sonderstellung zu, denn als Europäerinnen verfügten sie einerseits über Kenntnisse und kulturelles Kapital, das für ihre Arbeitgeber:innen sehr erstrebenswert erschien und welches sie explizit an die jüngere Generation ihrer Gastfamilie weitergeben sollten.
Auch den Kindern in ihrer Obhut standen sie oft sehr nahe. In der gesellschaftlichen Hierarchie des osmanischen Reichs waren die Gouvernanten ihren Arbeitgeber:innen jedoch nicht gleichgestellt, sondern lebten als Angestellte und Abhängige in den jeweiligen Haushalten. Während ihres Aufenthalts im osmanischen Reich werden die Gouvernanten, die aus unterschiedlichen europäischen Kontexten stammen, seitens der Behörden einer übergreifenden Kategorie zugeordnet und auch innerhalb der osmanischen Gesellschaft als Kollektiv wahrgenommen: Diese Gemeinsamkeiten führen dazu, dass sich Akteurinnen auch aus ganz unterschiedlichen Herkunftskontexten untereinander vernetzen und dass ihnen eine neue, übergreifende Gruppenidentität nicht nur von außen zugeschrieben wird, sondern dass sie diese auch selbst annehmen, verhandeln und aktiv mitgestalten. Für den osmanischen Kontext sind Rekrutierung, Alltagsleben und Netzwerke dieser Akteursgruppe bisher noch kaum untersucht. Hier setzt das vorgeschlagene Projekt an und nimmt Gouvernanten als Fremde in zweifacher Hinsicht in den Blick: Einerseits als Ausländerinnen im von staatlichen Vorgaben geprägten städtischen Kontext und andererseits als Außenstehende in den Familien ihrer osmanischen Arbeitgeber. Darüber hinaus sind Wechselwirkungen zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmungen Gegenstand der Untersuchung.
Eine mögliche Quellengrundlage des skizzierten Promotionsprojektes sind Memoiren und Selbstzeugnisse von Gouvernanten und osmanischen Akteur:innen, die sich an Begegnungen mit ihnen erinnern, wobei insbesondere Kindheitserinnerungen in den Blick geraten. Darüber hinaus dienen osmanische Archivbestände als Ausgangspunkt zur Identifikation von Situationen, in denen Gouvernanten für staatliche Institutionen sichtbar geworden sind. Einige dieser Fälle lassen sich in den diplomatischen Archiven der jeweiligen Herkunftskontexte weiter nachverfolgen.