Forschungsprogramm

Fremdheit als Selbst- oder Fremdzuschreibung ist ein akzidentieller Zustand. Als solcher ist sie nicht an feste Kategorien gebunden und bleibt, einmal zugeteilt, verhandelbar, veränderlich, endlich. Das MGRK ‚Urbane Differenzierungspotentiale‘ widmet sich in historischer Perspektive den komplexen und vielstimmigen Prozessen der kulturellen Produktion und Entwicklung von Fremdheitszuschreibungen, sozialen Grenzziehungen und Diversitätserfahrungen im Kontext urbaner Räume.  

Unter welchen Umständen werden Fremde als separate Gruppen im urbanen Raum, der sich durch die hohe Bevölkerungsdichte und das komplexe Zusammenspiel verschiedener sozialer Gruppen besonders als analytischer Rahmen eignet, evident? Gemeinsam fragen wir nach den Dynamiken, Geschwindigkeiten, Katalysatoren und Umschlagpunkten der hier wirksamen Differenzierungen, aber auch nach den schriftlichen und materiellen Spuren, die diese Konstellationen hinterlassen haben. Unsere Untersuchungskontexte regen in ihrer Zusammenschau zum Nachdenken über Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Variablen sowie über gemeinsame Herausforderungen hinsichtlich des Quellenzugriffs und der methodisch-theoretischen Einbettung an. 

Durch die Längsschnittperspektive von der Antike bis ins 19. Jh. bietet das Vorhaben einen innovativen Reflexionsrahmen, um diesen Themenkomplex von hoher gesellschaftspolitischer Relevanz und Aktualität mit neuen Impulsen und historischer Tiefenschärfe auszustatten. Wir gehen dabei von der gemeinsamen Beobachtung aus, dass sich in unseren Forschungskontexten jeweils Schlüsselmomente identifizieren lassen, in denen sich zuvor latente oder implizite Differenzierungspotentiale innerhalb der Stadtgesellschaft so verdichten, verfestigen oder auch wieder auflösen, dass sie sowohl für die ordnenden, normgebenden Instanzen im städtischen Raum als auch für Akteur:innen und Gruppen selbst, die sich in der Folge als separat von der übrigen Gesellschaft verstehen, sichtbar und explizierbar werden. 

Der gemeinsame Fokus der in vier Teilprojekten vorzunehmenden Fallstudien liegt dabei auf solchen Akteur:innen, die von außen in die Stadt kommen und als Fremde auftreten bzw. als fremd wahrgenommen und kategorisiert werden. Das Spektrum reicht dabei von Soldaten und frühen Christ:innen in der römischen Antike über Gäste und Kaufleute in der mittelalterlichen Stadt bis zu Gouvernanten im osmanischen Reich um 1900. Besonders interessieren uns dabei Wechselwirkungen zwischen den Konzepten und Setzungen durch normgebende Instanzen in der Stadt und der Selbstwahrnehmung und eigenen Verortung der als fremd konzeptualisierten Akteur:innen.  

In den Einzelprojekten stehen jeweils wirtschaftliche, religiöse oder soziale Kontexte stärker im Vordergrund. Der gemeinsame Zugriff über die Linse Fremdheit bzw. Fremdsein eröffnet vergleichende Perspektiven und Räume für eine übergreifende Diskussion dieser Faktoren. Gemeinsame Fragen und theoretische Zugänge können insbesondere anhand der folgenden Themenachsen entwickelt werden: 

 

A) Konzepte: Welche Begriffe, Vorstellungen und Normen sind bei der Verhandlung von

Fremdheitskonzepten und separaten Handlungsräumen wirksam? 

B) Performanzen: Wie werden durch sprachliche und nichtsprachliche Praktiken separate

Handlungsräume markiert und/oder infrage gestellt bzw. aufgehoben? 

C) Konnektivität: Welche Räume, Verbindungen und Grenzen spielen bei der Verhandlung

von Fremdheitskonzepten eine Rolle? 

D) Stadt: Wie prägt der urbane Raum mit seinen Besonderheiten diese Phänomene?