Urbane Differenzierungspotentiale römischer Grabmonumente im Norden des Imperium Romanum
Betreuer: Univ.-Prof. Dr. Johannes Lipps
Das Römische Reich war zu allen Zeiten von vergleichsweise starker Mobilität und Migration geprägt. doch herrschte eine besonders große Fluktuation in den Grenzstädten des Imperiums, die häufig eng mit Militärlagern verknüpft waren und als Drehscheibe für Truppenbewegungen dienten. So kamen mitunter auf einen Schlag Tausende von Soldaten aus dem gesamten Mittelmeerraum in neu gegründete oder schon existierende Städte, gefolgt von Veteranen, Handwerkern, Verwaltungspersonal, Händlern und Freigelassenen, die mit ihren nachgezogenen oder vor Ort gegründeten Familien von den an den Grenzen etablierten Wirtschaftszentren profitieren wollten. Ferner lebten hier zahlreiche Mitglieder der indigenen Bevölkerung sowie die in der Regel verschleppten Sklav:innen. Man kann sich leicht vorstellen, mit welchen logistischen und sozialen Herausforderungen diese Grenzstädte konfrontiert waren, galt es doch die Versorgung einer großen und vielsprachigen Menschenmenge sicherzustellen und soziale Rollen auszuhandeln.
Ein wichtiges Medium zur Darstellung von Diversität und zur sozialen Grenzziehung waren dabei Grabdenkmäler, die nicht wie heute vom öffentlichen Alltagsleben abgeschottet waren, sondern entlang der großen Einfallsstraßen vor den Städten dauerhaft Zeugnis von der sozialen Selbstverortung ihrer Besitzer ablegten. Sie boten ein reichhaltiges Differenzierungspotential, indem sich hier verschieden konstruierte Identitäten, darunter auch die „Fremdheit“, in Text und formaler Gestaltung verdichten, verfestigen aber auch wieder auflösen ließen; Prozesse; die stets im Spannungsfeld unhinterfragter Herstellungstraditionen und wechselnder gesellschaftlicher und funktionaler Ansprüche verhandelt wurden. Die Bilder und Texte am Grab sind dabei nicht als unmittelbare Visualisierung des Lebens der Verstorbenen zu verstehen. Vielmehr sind sie deutlich idealisiert und befinden sich somit in einem sensiblen Spannungsfeld: Zum einen sind sie durch soziale Konventionen gewissen Auflagen unterworfen; zum anderen verfügen sie über ein den Medien eigenes kreatives Potential, das zwischen Dokumentation und Fiktion zu oszillieren vermag. Die Errichtung der Grabbauten erfolgte somit nicht nur für die Toten, sondern gerade auch für die kollektive Gemeinschaft der Lebenden, die diese Monumente konzipierte, errichtete, rezipierte und somit durch sie wiederum beeinflusst wurde.
Das besondere hermeneutische Potential für ein Dissertationsprojekt ergibt sich bei den Grabdenkmälern zudem aus der Verknüpfung von Inschrift, in welcher zahlreiche Verstorbene ihre territoriale oder ethnische Herkunft angeben, und der Gestaltung des jeweiligen Monuments inklusive der dort angebrachten Reliefs und Porträts. Außerdem sind zahlreiche solcher Monumente überliefert und gerade für den Norden des Imperiums epigraphisch und archäologisch gut aufgearbeitet, sodass sich hier eine vergleichende Untersuchung vorgenommen werden kann, welche u.a. gezielt den Fragen nachgeht, in welchen Räumen und in welchen historischen Konstellationen urbane Gruppen das Differenzierungspotential „Fremdheit“ abrufen und für ihre Bedürfnisse zum Einsatz bringen.